Hätte ich das nicht alles schon viel früher merken müssen?

Gerade für Menschen, denen die Thematik fremd ist und die sich so überhaupt nicht vorstellen können, dass Transidentität überhaupt existiert, und sich fragen, wie das alles sein kann, möchte ich auf diesem Blog Frequently Asked Questioning Questions (das hab ich mir selbst ausgedacht, lol, ich gebe diesen Beiträgen das Label FAQQ) beantworten. Diese meine Identität anzweifelnden Fragen stammen i. d. R. aus der Generation der Babyboomer (das sind grob die Jahrgänge 1955–1969), also meiner Elterngeneration, und ich finde es auch verständlich, dass man damals noch anders aufgewachsen ist und jegliche Genderthemen insgesamt weniger präsent waren.

Umso wichtiger, dass ich hier darüber spreche! Während der*die eine oder andere über meine extreme Offenheit im Netz den Kopf schüttelt, ist es für mich ein unglaubliches Befreiungsgefühl und mein ideales Mittel, meine Gedanken zu sortieren und im besten Fall ein wenig Bildungsarbeit zu leisten.

So here we go:

Frequently Asked Questioning Question I:
Redest du dir die Geschlechtsdysphorie nicht vielleicht nur ein? Das hättest du doch viel früher schon merken müssen?

Ich habe im vorangegangenen Beitrag bereits erklärt, was Geschlechtsdysphorie ist, kurz: das Unwohlsein mit dem eigenen Körper aufgrund der als unpassend empfundenen entwickelten Geschlechtsmerkmalen. Bei trans Männern sind die klassischen größten Unwohlstellen also die Brüste und die Vulva. Dazu gehören können allerdings auch: die dem weiblichen Genotyp zugehörige Körperfettverteilung, ugs. weibliche Kurven, weiche statt kantige Gesichtszüge, die als zu hoch empfundene Stimme. Bei trans Frauen sind die offensichtlichsten Unwohlstellen der Penis, die „männliche“ Brust, Körper- und Gesichtsbehaarung und auch hier die Stimme und die Körperfettverteilung. Welche Körperstellen besonders viel Dysphorie hervorrufen, ist jedoch stets individuell.

Was ich damit sagen will: Als Beispiel nehme ich natürlich gerne, um es zu vereinfachen, dass ich mich an meinen Brüsten störe und mir einen flachen Oberkörper wünsche – das ist aber nicht alles. Es sind so viele kleine Baustellen und vor allem diese Vielzahl führt zu besonderem Leidensdruck.

Nun aber zur eigentlichen Frage: Was dieser zugrunde liegt, ist das Unverständnis, wieso einem erst so spät im Leben bewusst werden kann, dass man unter Geschlechtsdysphorie leidet, und unterschwellig klingt die Sorge mit, dass man es sich lediglich einbildet. Ich möchte versuchen, zu erklären, wieso es gar nicht immer so einfach ist, zu verstehen, dass man Dysphorie verspürt.

Disclaimer vorab: Jeder Mensch ist individuell und empfindet selbstverständlich auch bei Geschlechtsdysphorie individuell. Mein Weg der Erkenntnis wird nicht mit dem aller anderen trans Männer übereinstimmen.

Die Dysphorie überhaupt erst erkennen

Mein heutiges Ich, eine reflektierte und informierte erwachsene Person mit Zugang zu allen möglichen Informationsdiensten, kann leicht und lockig-flockig Fachbegriffe wie Dysphorie in den Mund nehmen – ich habe aber ja noch nicht immer die Lebenserfahrung, die ich nun mit fast 25 habe, und ich hatte auch nicht immer das gleiche Interesse, mich über Genderthemen zu informieren. Tatsächlich bin ich erst sehr spät auf diesen Trichter gekommen. Das heißt: Erst als ich von Geschlechtsdysphorie las, konnte ich mein Unwohlsein, das ich schon immer verspüre, endlich zuordnen – vorher hätte ich das niemals so benennen können, wie auch? Aber deshalb war es vorher nicht nicht da.

Was bereits seit der Pubertät da war, war ein allgemeines Unzufriedenheitsgefühl mit meinem Körper. Dieses Gefühl war aber so ungenau, dass ich es einfach gar nicht greifen konnte, und natürlich dachte ich erst einmal über die Dinge nach, die für einen jungen Menschen am naheliegendsten sind bzw. als am naheliegendsten vermittelt werden: Finde ich mich vielleicht einfach zu dick? Gefällt mir etwas an meiner Statur nicht? Habe ich vielleicht noch nicht den passenden Kleidungsstil gefunden? Ich brauchte also fast zehn Jahre, zu verstehen, dass all meine Versuche, etwas Neues auszuprobieren, um mir doch selbst zu gefallen, nicht fruchten konnten, weil das Problem viel tiefer saß: nämlich bei der Geschlechtsidentität.

Das heißt: Ja, ich habe mich eine Zeit lang ziemlich feminin gekleidet und mich geschminkt. Ja, eine andere Zeit lang bin ich eher neutral herumgelaufen und wollte am liebsten gar nicht auffallen. Und ja, dann dachte ich auch eine Zeit lang, ich muss einfach irgendwie alternativ aussehen, gerade um aufzufallen und beachtet zu werden. Aber genau das – dass ich so extrem viele Stile ausprobiert habe – sollte doch eigentlich zeigen, dass ich bisher bei keinem wirklich angekommen war. Stattdessen wird mir nun jedoch gern ausgelegt, dass die Transidentität einfach das Nächste ist, was ich ausprobiere, weil ich so ein wechselhafter und leicht zu beeinflussender Mensch sei. Ich kann aber sagen: Noch nie habe ich bei all dem, was ich bereits „ausprobiert“ habe, dieses Gefühl des Ankommens gespürt. Nie hatte ich dieses Gefühl, endlich verstanden zu haben, „was mit mir los ist“.

Es gibt keinen unanfechtbaren Nachweis für Dysphorie

Das Blöde an dieser ganzen Sache ist: Ich kann niemandem etwas beweisen. Ich kann erklären, wie ich mich fühle, und das können Außenstehende dann glauben oder nicht. Das ist ziemlich frustrierend – denn ich möchte gerne, dass alle mir nahestehenden Personen verstehen, wie verdammt es sich gerade nach Ankommen anfühlt. Das ist ein Gefühl, das ich noch überhaupt nicht kenne. So habe ich mich noch nie gefühlt: noch nie so voller Lebensenergie, voller Lebenslust, voller Drang, präsent zu sein, gesehen zu werden, einfach nur ich zu sein. Wie soll man das jemandem erklären, der noch nie mit seiner eigenen Identität gestruggelt hat?

Wenn ich zum Beispiel eine Zeit lang auf irgendeine Art euphorisch wirkte, als ich mich sehr feminin gekleidet habe, war das eine kurzweilige Auswirkung dessen, dass ich merkte, dass ich beeinflussen kann, wie Männer mich wahrnehmen. Ich hatte früher extrem damit gestruggelt, keinen Partner zu haben, und vor allem damit, zu merken, dass sich Männer nie für mich interessiert hatten (dass ich damals nicht auf die Idee kam, dass ich auch auf Frauen stehen kann, ist eine andere Geschichte). Also wechselte ich von einem neutralen Stil zu einem femininen und brachte meinen Körper per Fitness in Form – alles genau so, wie ich dachte, dass es Männern gefällt. Und, traurig, aber wahr: Es hatte funktioniert. Und dass ich nun von manchen Personen offensichtlich begehrt wurde, war natürlich ein tolles Gefühl für eine junge Person, der noch nie romantisch und/oder sexuell Beachtung geschenkt wurde.

Was man schnell übersehen hat können: Ich war vielleicht glücklich über den Ego-Push, aber ich war dadurch nicht glücklich mit mir selbst. Eigentlich war ich noch unglücklicher, weil ich merkte: Ich werde nur wahrgenommen und begehrt, wenn ich mich als völlig andere Person gebe, als ich bin.

Dieser Exkurs soll zeigen: Man kann vieles ausprobieren, und man kann äußerlich zufrieden und glücklich wirken, wenn man es nicht ist. Man muss als trans Mann nicht sein Leben lang in Männerklamotten rumgelaufen sein und kurze Haare gehabt haben. Wenn alles so einfach wäre, gäbe es gar keine trans Menschen, die erst in ihren 20ern oder 30ern oder noch später ihre Transidentität entdecken. Zum anderen muss man nicht anderen Menschen erzählt haben, wie unglücklich man war. Es erst im Nachhinein zu offenbaren, macht das damalige Gefühl nicht weniger echt.

Der Mensch will dazugehören

Das Ding ist, dass Menschen sehr gut darin sind, sich anzupassen, und je nach Persönlichkeit ist man eventuell sogar besonders gut darin. Ich glaube, das war bei mir der Fall. Heute sitze ich hier und schreibe offen über meine persönliche Geschlechtsidentität, aber vor zehn Jahren wäre ich dafür niemals bereit gewesen – einfach, weil ich viel zu viel Angst davor hatte, nicht dazuzugehören, anders zu sein, abgelehnt zu werden, invalidiert zu werden, und und und. Das heißt aber nicht, dass ich mich vor zehn Jahren nicht bereits im Inneren als Mann gefühlt habe, sondern das heißt einfach nur, dass ich dieses Gefühl sehr erfolgreich verdrängt hatte, weil ich in meinem Charakter noch nicht gefestigt genug war, um zu mir selbst zu stehen. Und das ist auch okay. Jetzt bin ich bereit und jetzt gehe ich meinen Weg. Und Zweifler*innen kann ich keinen Beweis für meine Gefühle liefern. Ich kann nur hoffen, dass sie darauf vertrauen, dass ich weiß, wie ich mich fühle, und mir ganz einfach glauben.

Mit 13 Jahren sah ich mich im Spiegel und war unzufrieden. Ich war in der Pubertät, das war irgendwie normal, und es konnte so viele Gründe haben. Mit 16 Jahren vermied ich es komplett, überhaupt in den Spiegel zu schauen, weil ich nicht damit konfrontiert werden wollte, wie ich aussah. Auch das kann für das Alter völlig normal sein. Mit 21 sah ich mich im Spiegel und sah einen Körper, der den weiblichen Schönheitsidealen zumindest halbwegs entsprach, und fand diesen Körper trotzdem furchtbar. Das kann auch normal sein, ich war vielleicht einfach überkritisch mit mir selbst und müsste einfach noch etwas mehr Gewicht verlieren und den Bauch vielleicht noch etwas mehr trainieren. Mit 23 sah ich meinen Körper und war verdammt unzufrieden, aber das war ja kein Wunder, ich hatte schließlich enorm zugenommen. Übergewichtige Körper können ja gar nicht schön sein, wird uns so gern eingetrichtert. Also auch hier nichts Ungewöhnliches.

Was ich mit dieser Veranschaulichung zeigen möchte: Es kann so viele Gründe dafür geben, dass man sich in seinem Körper nicht wohl fühlt. Man kann exakt diese Gefühle gehabt haben, die ich gerade beschrieben habe, und nicht trans sein. Transidentität kann aber die Ursache für dieses Unwohlsein im eigenen Körper sein. Ich persönlich konnte auf meine Erfahrungen zurückblicken und es hat Klick gemacht: Kein Wunder, dass ich nie zufrieden war, egal, was ich probiert habe, wenn ich mich einfach nicht als Frau fühle, aber mit einem Frauenkörper konfrontiert bin, wenn ich in den Spiegel sehe.

Fazit

Ob Geschlechtsdysphorie vorliegt oder nicht, ist nicht von außen zu beurteilen, sondern allein von innen, und die negativen Gefühle gegenüber dem eigenen Körper können sich einem auch erst rückblickend erschließen. Das bedeutet: Man kann jemandem schlichtweg nicht absprechen, unter Dysphorie zu leiden. Also, man kann schon, ich plädiere aber stark, es nicht zu tun, da es in hohem Maß verletzend ist, derart in seinen eigenen Gefühlen invalidiert zu werden.

Und genau das ist es aber, was ich in letzter Zeit oft zu hören bekommen habe: dass man sich einfach nicht vorstellen könne, dass ich unter Geschlechtsdysphorie leide. Darauf möchte ich gerne sagen: Ja, das ist auch vollkommen logisch, dass eine nichtbetroffene Person sich das nicht vorstellen kann – wie auch, wenn sie noch nie das Gefühl hatte, ihr Körper passe nicht zur eigenen Identität? In diesem Fall geht es wirklich mal nicht um Nachempfinden, sondern ganz einfach um: bedingungslose Akzeptanz.



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